Die letzte schöne Berührung

Mein Vater starb im September 2016 in einem riesigen Krankenhaus hier in Hamburg. Mein größtes Bedürfnis während der Zeit seiner Erkrankung war, dass ich bei ihm sein wollte, wenn dieser Moment eintritt. Doch mein Wunsch erfüllte sich leider nicht, und mein Vater war zu dem Zeitpunkt seines Hinübergehens in eine andere Dimension ganz alleine.

Wir durften ihn kurz nach seinem Tod noch einmal in seinem Zimmer der Station aufsuchen und sehen. Es war meine allererste Konfrontation mit einem toten Menschen. Ihn dort liegen zu sehen, war kein schöner Anblick. Obwohl er noch nicht mal gequält oder so aussah. Aber es fühlte sich für mich nicht richtig an, dass es hier in diesem anonymen Zimmer für mich der letzte Kontakt mit ihm sein sollte, indem ich ihn dort im Krankenhausbett tot liegen sehe und somit dieses letzte Bild von ihm als Eindruck ewig in mir tragen würde.

Am nächsten Morgen, es war ein Sonntag, nahm ich Kontakt mit dem Beerdigungsunternehmen auf. Es war sozusagen meine Premiere, denn niemals zuvor hatte ich damit zu tun gehabt, eine Beerdigung zu organisieren. Und Bestatter brachte ich für mich nur in Verbindung mit Leichenwagen, die ich auf der Straße an mir vorbeifahren sah. Diese Autos, mit ihren schwarzen oder lila Gardinen in ihren Heckscheiben, gesteuert von Fahrern in schwarzen, gediegenen Anzügen und ernsten Mienen. Dieser Anblick war schon immer ein Graus für mich und hinterließ stets ein deprimierendes Gefühl in mir. 

Wir als Familie entschieden uns für das Bestattungsunternehmen Trostwerk, und das war die beste Entscheidung, die wir treffen konnten. Noch am Nachmittag des Tages kam ein Mitarbeiter zu uns nach Hause und die erste Überraschung war, dass da keine Gestalt in Trauerflor an unserer Tür klingelte, sondern sich uns eine Person die  in Jeans und Pulli gekleidet war gegenübersetzte.

Dieser überaus empathische Mitarbeiter erzählte uns davon, dass es die Option gibt, dass man als Angehöriger mit dabei sein kann, wenn der Verstorbene im Institut für seine letzte gebettete Ruhestätte – den Sarg, fertig gemacht wird. Es gehört dazu, dass ihm so die letzte Ehre erwiesen wird, indem der tote Körper noch mal gewaschen und auf Wunsch auch bekleidet wird. Dass es diese Möglichkeit gibt, war mir bis dato nicht bekannt und es fühlte sich für mich gleich richtig an, dass ich dabei sein möchte.

Sechs Tage später  – es war mein 51. Geburtstag – war es dann soweit. Ich wurde zuvor von der begleitenden Mitarbeiterin sehr gut auf den Moment vorbereitet, wenn ich meinem Vater eine Woche nach seinem Tod wiederbegegnete.

Ich hatte ein wenig Herzklopfen, als sich die Tür zu dem Raum öffnete, in dem er lag. Ich sah seinen mir so vertrauten Leib dort auf dem Stahltisch liegen. Nackt, und nur am Unterleib mit einem weißen Tuch abgedeckt.  Dieser Körper, den ich zuvor vier Monate lang auch schon gewaschen hatte, als er von uns Zuhause gepflegt wurde, ich ihn 100-fach gewickelt hatte. Jeder Bereich seiner körperlichen Hülle war mir also mehr als vertraut.

Ich sah meinen Vater vorerst nur an. Sprach mit ihm. Berührte seine kalte Haut. Die Atmosphäre um uns herum war die ganze Zeit über eine nicht beängstigende, sondern es war ruhig, liebevoll und voller Respekt von Seiten des Beerdigungsunternehmens. Es herrschte auch keine grelle Beleuchtung, sondern das Licht war angenehm gedämpft.

Gemeinsam mit der Mitarbeiterin fing ich an. Als erstes cremte ich Arme und Beine ein, kämmte sein Haar und schnitt seine Fingernägel. Selbst sein geliebtes After Shave hatte ich mitgebracht und trug es ihm auf. Dann setzten wir ihm sogar noch sein Gebiss ein und ein Lächeln huschte über meine Lippen, als die liebe Frau an meiner Seite sagte, dass mein Vater jetzt irgendwie einen verschmitzten Gesichtsausdruck hat – womit sie Recht hatte.

Vier Monate musste mein Papa gewickelt werden, weil er nicht mehr Laufen konnte. Dieser stolze, großartige Mann, der schon immer so viel Wert auf seine Hygiene gelegt hatte, sollte den Weg ins Krematorium nicht mit einer Windel am Po bestreiten, sondern das letzte Mal eine Unterhose tragen dürfen – das war mir wichtig. Und so geschah es auch. Außerdem hatte ich seine Lieblingsklamotten mitgebracht, die wir ihm anzogen.

Da lag er nun, mein Papa. Frisch gemacht, wohl duftend und anständig angezogen. Nicht wie all die Wochen davor, wo er nur mit Schlafanzug oder Krankenhaushemd bekleidet war. Ich glaube, ich dachte es nicht nur sondern sprach es auch laut aus:

„Los Papa, nun steh mal auf und komm mit mir mit. Lass uns nach Hause gehen.“

Es fiel mir schwer zu gehen. Ich schaffte es auch nur, weil wir uns als Familie am Abend noch mal auf den Weg zu ihm machten, als wir endgültig Abschied von ihm, bzw seinem Körper, nahmen.

So chic, wie wir ihn am Vormittag gemacht hatten, wurde er nämlich in den Sarg gelegt. Dieser stand in einem mit Blumen und Kerzen geschmückten Raum, der liebevoll und fast lebensfroh gestaltet war. Der Sargdeckel lag auf einem Sockel nebenan, und wir hatten die Möglichkeit, dass wir diesen nach Herzenslust bemalen und beschreiben konnten. Das fand ich total schön und wir alle schrieben unsere letzten Worte und Gedanken an meinen Vater auf diesen schlichten, hellen Holzdeckel. Danach sah dieser bunt und schön aus. Das hätte meinem Papa gefallen.

Meine Geschichte mag sich für einige skurril anfühlen und vielleicht denkt der ein oder andere jetzt auch: “Oh, mein Gott.“ Aber ich erzähle sie, weil ich anderen Menschen Mut machen möchte, die vielleicht auch schon mal über so eine begleitende „letzte Ehre“ für einen lieben Verstorbenen nachgedacht haben. Ober aber auch du gehörst genau wie ich zu denjenigen, die bis dato gar keine Ahnung davon hatten, dass solch eine Option besteht.

Ich bin auch zwei Jahre nach dem Tod meines Vaters immer noch froh drum, dass ich diese Möglichkeit genutzt habe, bei der letzten Waschung mit dabei sein zu dürfen. Außerdem kommt hinzu, dass das Abschiednehmen von ihm dadurch nicht so „ruck-zuck“ über die Bühne ging, was mitunter ganz schön traumatisierend sein kann.

Es gehört ein wenig Mut dazu, keine Berührungsangst mit dem toten Körper eines geliebten Menschen zu haben. Aber diesen Mut aufzubringen, kann dich um eine schöne Erfahrung reicher machen.

Vielleicht habt ihr ja auch noch besondere Erlebnisse zu berichten, die ähnlich wie meine sind. Oder aber ihr erzählt mir allgemein eure Gedanken zu meiner Geschichte. Dann freue ich mich, diese in den Kommentaren lesen zu dürfen.

 

 

 

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