Für Mama

Und jetzt sitzt du mir gegenüber und ich schau in dein Gesicht. Jenes, welches mir seit 53 Jahren so vertraut ist. Ich schau in deine Augen, deren Lider nicht mehr durch blauen Lidschatten verschönert  und von getuschten Wimpern umrahmt sind. Dabei habe ich dich all die Jahre so gesehen, denn auch wenn du die 80 schon lange hinter dir gelassen hast, so war es dir immer wichtig, dass du dein schönes Gesicht schminkst. Doch jetzt ist es dir unwichtig geworden. Aber etwas Lippenstift, den trägst du hin und wieder noch mal auf. Und auch deine langen Fingernägel sind stets lackiert. Neuerdings in Pink, weil eine deiner Enkeltöchter auch genau diese Farbe auf ihren Nägeln trägt. 🙂 

Ich schau dich also an, wie du da sitzt in deinem Rollstuhl, weil du nicht mehr laufen kannst. Bestimmt 20 Kilo hast du an Körpergewicht verloren und ich versuche dich immer aufzumuntern, indem ich zu dir sage, was du jetzt für eine tolle Modelfigur hast und ich ganz neidisch auf deine schlanken Beine bin. Dann lachst du immer und sagst: „Nicole, hör auf,  du tüddelst doch.“

Dein Blick ist müde und meiner von aufkommenden Tränen verwässert. Dann drehe ich mich schnell weg, denn du sollst nicht sehen, dass mir zum Weinen ist, wenn in mir der Gedanke hochkommt, dass ich irgendwann mal nicht mehr dein Gesicht vor mir sehen und deine Stimme hören werde.

Aber von dir würde ich mir wünschen, dass du deinen Gefühlen mal den Raum geben würdest, der nötig ist, damit dein ganzer Schmerz, deine Trauer über deine Situation mal geweint werden darf. Nicht nur dann, wenn du alleine mit dir bist. Nein, schrei dir deinen Frust mal von der Seele. Halte nicht immer deine Tränen zurück, wenn sie fließen wollen. Ich weiß, dass du eigentlich mal herzhaft weinen möchtest, doch du tust es nicht vor mir, nicht vor deiner Familie.

Es bricht mir fast das Herz, weil ich drum weiß. Erzählt mir doch die Pflegerin deines Vertrauens, von deinem Heimweh. Aber das braucht sie gar nicht, denn ich spüre deine Sehnsucht nach Zuhause auch so – ohne Worte.

60 Jahre hast du in deiner Wohnung gelebt, doch sterben darfst du nicht in ihr. Glaub mir, Mama, das finde ich auch schlimm und ich kann den Gedanken kaum ertragen, dass du außerhalb deiner vier Wände deine letzten Atemzüge tätigen wirst.

Werde ich dabei sein können? Diese Frage stelle ich mir täglich. Ich wünsche es mir, denn ich möchte diesen Moment mit dir teilen, damit ich weiß, dass du gut rüber kommst in die Anderswelt.

Dieser Tag wird mein persönlicher „Worst Case“ sein, denn solange ich um den Tod weiß, seitdem ist meine größte Angst, dich zu verlieren. Lange Zeit habe ich mir gewünscht, dass ich vor dir sterben werde, damit ich den Schmerz nicht erleben und aushalten muss, wenn du mal nicht mehr da sein wirst. Jedenfalls nicht hier bei mir, bei uns, auf der Erde. Doch jetzt habe ich selber Kinder, bin auch eine Mutter. Da verändern sich die Gedanken und nun bin ich bereit, diese Trauer auszuhalten. Ich muss dafür bereit sein, denn es wird kein Weg dran vorbei führen.

Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich liebe? Habe ich es dir jemals gesagt? Ich glaube nicht, denn wir sind nicht so aufgewachsen, dass wir innerhalb unserer Familie mit solchen Worten wie „Ich liebe Dich“ um uns geschmissen haben  – wie schade eigentlich.

Ich hoffe, du weißt und fühlst es trotzdem.

Du warst keine perfekte Mutter, aber das bin ich auch nicht. Doch du hast dein Bestes gegeben und warst immer auf deine Art und Weise für mich da. So, wie du halt konntest. Es dir gefühlsmäßig möglich war. Unterstützt hast du mich immer und ich bin dir dankbar für all das, was du für mich getan hast.

Ich weiß, ich bin chaotisch, oftmals unorganisiert. Wie oft habe ich bei dir geklingelt, weil mir das Klopapier ausgegangen ist, der Kaffee, die Zigaretten. Weil ich es mal wieder nicht rechtzeitig geschafft habe einkaufen zu gehen. Welch ein Glück, dass du nur zwei Etagen über mir gewohnt hast.

Papa hat immer gesagt: „Ach, da kommt Nicole und geht wieder einkaufen im Supermarkt Mama und Papa.“ Ja, stimmt! Und ich brauchte dafür noch nicht mal bezahlen. Wie oft kam ich nach Hause und vor meiner Tür begrüßte mich ein Paket Waschpulver, welches du mir mitgebracht hattest. Oder am Türgriff hingen Äpfel oder sonstige Lebensmittel.

Auch haben wir beide die gleiche Fußmatte. Bestellt bei diesem Einkaufssender im Fernsehen. Immer hast du an uns Kinder und Enkel gedacht, wenn du dir von dort hast was schicken lassen. Wie oft haben wir mit den Augen gerollt, weil uns mal wieder Microfaser Bettwäsche und Handtücher geschenkt wurden. Du ein großer Fan dieses Materials bist und ich es so hasse, darin zu schlafen.

Das wird mir fehlen. Es fehlt mir jetzt schon. Nicht wegen des materiellen Vorteils. Nein, weil es einfach zu dir gehört, ein Teil von dir war. Etwas, was mich immer an dich erinnert.

Deine selbstgemachten Marmeladen, deine traumhaften Torten. Mein Gott, wie werde ich diese Köstlichkeiten vermissen. Niemals mehr werde ich so leckeren Rotkohl essen, wie den von dir. Auch an deinen Kartoffelsalat wird keiner herankommen. Das kannst nur du!

Als kleines Mädchen war ich dabei, als du deine Fahrstunden hattest. Und von dir habe ich das Talent vererbt bekommen, tapezieren zu können. Und du weißt, wie oft ich neue Tapeten bei mir an die Wände klatsche. Jedes Jahr ne Neue 🙂

Mama, ich wünschte, wir hätten uns nicht für diese Operation vor einem Jahr entschieden. Hätte ich bloß auf mein Bauchgefühl gehört, welches mir sagte, dass es nicht gut ist. Damit fing alles an und das Elend nahm seinen Lauf.

Du bist so tapfer und erträgst alles fast schweigsam. Viel zu schweigsam, wie ich finde. Aber auch mir kommen nicht immer die richtigen Worte über die Lippen. So konnte ich dir auch nicht sagen, dass du wohl für immer dort im Pflegeheim bleiben musst und nicht mehr zurück kannst. Ahnen tust du es sowieso, aber es dir klar sagen, das bringe ich einfach nicht über mich.

Ich schäme mich ein wenig dafür, dass ich mein Versprechen dir gegenüber nicht halten konnte. Das Versprechen, dass du niemals in ein Heim müsstest. Aber da wussten wir noch nicht, wie viel Pflege du mal benötigen wirst. Pflege, die wir Kinder nicht mehr leisten können. Es liegt nicht daran, dass wir nicht wollen, sondern dass wir es einfach nicht mehr bewältigt bekommen.

Bist du deswegen enttäuscht von uns? Das frage ich mich manchmal.

Jeden Tag meldet sich mein schlechtes Gewissen. Es klopft regelmäßig an meine Tür und es tut mir so leid, dass ich es nicht täglich schaffe, dich zu besuchen. Ich kann es einfach nicht, weil ich nicht immer stark genug bin, es aushalten zu können. Ich oft so müde bin und jeder Besuch bei dir ja auch mit einem körperlichen Einsatz verbunden ist. Wenn ich dich erstmal so präparieren muss, damit du mit einem elektrischem Lifter vom Bett in den Rollstuhl transportiert werden kannst.

Es strengt mich einfach an und wenn ich ehrlich bin, dann kann ich auch deine Traurigkeit nicht immer aushalten. Dann schäme ich mich wieder ob dieser Haltung von mir. Denn was sollst du denn erst sagen…wie anstrengend ist es für dich erst, wenn du stundenlang auf deiner wunden Stelle -dem Dekubitus am Gesäß- liegen oder sitzen musst.

Ich dachte, dass ich stärker bin und ich bin oft selber enttäuscht von mir. Doch die vergangenen Monate sitzen noch sehr in meinen Knochen. Die Zeiten, als du ständig im Krankenhaus warst. Insgesamt sechs Operationen innerhalb von 9 Monaten. Die Besuche auf der Intensivstation oder als du tagelang alleine in Quarantäne in deinem Zimmer liegen musstest. Bei jedem einzelnem Gang ins Krankenhaus, wo ich an der Eingangstür erstmal tief durchatmen musste, weil ich nie so wirklich wusste, wie dein akuter Zustand, dein Befinden ist. Wie ich dich vorfinden würde.

Den Geruch der Krankenstation immer noch in der Nase. Die Geräusche des Überwachungsmonitors auch jetzt noch in den Ohren. Das gute Zureden vor den OP’s, dir die Angst nehmen wollend. Dabei war ich mir ja selber nicht sicher, ob du die wiederholte Narkose überleben würdest. Oder danach, wenn dein Kreislauf im Keller war. Du deine Zeit brauchtest, um wieder stabil zu werden.

Das Schlimmste für dich ist, dass du niemals damit gerechnet hast, dass dein Leben mal so enden wird.

Wie gesagt, ich wünschte, wir hätten uns nie für die OP entschieden, mit der alles begann. Dann hättest du lieber von jetzt auf gleich umkippen sollen und das wäre es gewesen. Tja, aber dann hätten wir uns auch Vorwürfe gemacht und bestimmt gesagt „Ach hätten wir doch bloß“

Wie man es macht ist es verkehrt. Oder nicht ? Ist es doch Schicksal, und alles soll so sein? Wahrscheinlich. Die Zeit können wir eh nicht mehr zurückdrehen. Nur darauf hoffen, dass uns noch etwas Zeit bleiben wird. Das wünsche ich mir sehr.

Deine Ninotschka

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